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Der erste Tag


Nicht nur wir, Deutschland ist in Bewegung. Nach langer Verspätung sitzen wir jetzt im Bus nach Berlin und mit uns viele Menschen, die zu einer verbotenen und doch wieder genehmigten Demo fahren. Die Gespräche der Passagiere drehen sich um Corona und die Grundrechte. Die vier Jungens schlafen scheinbar unberührt oder schauen in Ihre Handys....Jamal hat die Maske nur 10 Sekunden runtergezogen, um etwas zu essen.

Ankunft in Berlin. Nachtfahrten im vollen Flixbus gefallen nicht jedem. Es ist heiß, stickig, Körperdüfte wabern durch die Gänge. Die Atemmasken sind von der Atemluft durchnässt und machen die ganze Sache eher schlimmer. Dafür entschädigt uns der Blick aus dem Bus auf eine schöne und herrlich flache Landschaft, an die sich meine Bodenseevoralpenaugen  erst gewöhnen müssen.

Berlin!!! Eine echte Herausforderung für uns Landeier....Unser Hotel heißt Lebensquelle ist sehr schön und wohl eine Mischung aus Low Budget Hotel und Zimmern , in denen Menschen richtig wohnen. Uns begegnen viele Menschen aus fremden Ländern. Die 4 Jungens fühlen sich wohl und beharren darauf in einer "Ausländerstrasse" zu Mittag zu essen. Dort verspeisen sie Unmengen von Hühnchen und Pommes. Ich bekomme ein Gefühl dafür, was es heißt 4 Zwanzigjährige 2 Wochen lang satt zu machen.

Heute kam eine Mail von einem Anwalt, ob ich nicht für einen Jugendlichen einen "Härtefallantrag" schreiben kann. Kein Problem! Wir sind ja eh zwei Wochen zusammen. Die Geschichte dahinter: Er ist wirklich ein Musterbeispiel von Integration. Hat den Realschulabschluss. Will jetzt gerade das Fachabitur machen, hat einen Nebenjob, macht 5 Mal in der Woche Sport und hat jetzt eine Duldung bekommen! Das heisst: Er darf nicht mehr arbeiten, eventuell nicht mehr in die Schule gehen und kann jederzeit mit seiner Abschiebung rechnen. Das ist wohl auch ein Grund, warum er mitfährt. Er braucht Abstand, um sein Leben neu zu ordnen. Der Härtefallantrag ist eine letzte Möglichkeit doch noch ein Bleiberecht zu bekommen. Eine andere Möglichkeit wäre eine Ausbildungsduldung. Dafür müsste er aber dieses Jahr noch eine Ausbildung finden. Ich denke, dass es ein Gewinn für unser Land wäre, wenn er bleiben könnte.

Da ist sie....unser/e Gefährt/in für die nächsten 2 Wochen. Liebevoll aufbereitet, gepflegt, motorisiert von Ingo, der seit 15 Jahren Rikshaws in Berlin fährt. Wir verstehen uns auf Anhieb wie das bei Fahrradnerds halt so ist. Ich überlege schon, welches Rad ich als nächstes kaufen könnte, um weiter mit ihm in Kontakt bleiben zu können. Langsam wird mir bewusst, was für eine verrückte Idee das ist mit so einem Ding 800 Kilometer zu fahren. Für solche Langstrecken sind sie (bislang) definitiv nicht gedacht....

Die erste Etappe ist geschafft. Am Anfang MUSSTEN wir natürlich noch ans Brandenburger Tor. War nicht meine Idee. Während wir uns noch für ein Foto aufstellten lief im Hintergrund eine Demonstration. Es handelte sich wohl um einen "Ausläufer" der Demo, die gestern aufgelöst wurde. Es waren ein paar hundert Teilnehmer und viel Polizei da. Ich habe nur einen Satz aufgeschnappt: "Wir sind die Guten und die Regierung ist böse!" Der Blick in "Zeit online" gestern Abend zeigte, dass anders herum auch sehr polarisiert wird. Deutschland ist in Bewegung! 

Heute sind wir am Wannsee und der Havel entlang. Wir waren alle sehr beeindruckt von der Schönheit der majestätischen Landschaft und den bezaubernden Gastwirtschaften. Berlin atmet Geschichte. 

Dann kam der erste Regen! 

Der Tag endete dann mit einem herrlichen Essen in der Lebens- und Wohngemeinschaft "Wohnmichel". Wir sind alle sehr berührt von der Gastfreundschaft. Einer der Jungens sagte: "Ich schäme mich immer, wenn jemand so nett ist".

Ich finde Dankbarkeit sehr wichtig.

Dann am Abend gab es noch eine längeres, sehr sehr netten Austausch über die verschiedenen Leben. Für die Jugendlichen und mich war es unglaublich spannend zu hören, welche Antworten es auf Mietspekulationen es schon gibt und welche Lebensformen sich daraus entwickeln. Ich hatte das Gefühl, dass Gemeinschaften wie der Wohnmichel Menschen ein Gefühl von Aufgehobensein geben können, was gerade für Menschen aus anderen Kulturen, in denen die Familie noch eine grössere Rolle spielt als bei uns ungeheuer helfen kann mit der Isolation und zunehmenden Einsamkeit umzugehen, unter der wir Einheimischen ja auch leiden.

Das Mietshäusersyndikat kommt ursprünglich aus der Freiburger Punkszene und entwickelte sich aus der Schenkung einiger besetzter Häuser. Wenn ich es richtig verstanden habe werden die Häuser durch Kredite und Spenden finanziert. Durch die Mieten werden die Kredite abbezahlt. Niemand verdient Geld damit. Die Menschen, die dort wohnen sind zugleich Mieter und Vermieter. Die Wohnungen gehören ihnen nicht. Wenn sie kündigen ziehen sie einfach aus. Hier steckt sehr viel Know how über ökologische Bauweise, nachhaltigen Umgang mit Energie und Finanzen. Mittlerweile gibt es über 150 Projekte. Wäre das vielleicht eine Idee für die Renovierung und die Umnutzung leerstehender städtischer Gebäude in Überlingen. Angeregt durch unseren Besuch denken die Bewohner vom Wohnmichel jetzt darüber nach Wohnungen an Geflüchtete zu vermieten. Das Problem der Spekulation und der daraus entstehenden Wohnungsnot gibt es auch hier.

2. Tag Michendorf - Bad Belzig: 40 km


Heute hat uns die wunderbare Landschaft hier alle gleichermassen "angehaucht". Es braucht einige Zeit bis auf solchen Touren eine Verbindung mit der Landschaft spürbar wird. Heute gab es einen Vorgeschmack. Endlose Ebenen, Wälder und seltene Tiere. Auf dem Weg begegnete uns ein Tierliebhaber, der die Trappen, grosse Vögel, die wohl mit den Hühnern verwandt sind fotografierte. Kurz vorher hat mir Ahmed noch von seinen Lieblingstieren erzählt: Löwen und Adler. Der Mann hat uns noch von einem Livestream aus Eschenbach erzählt, auf dem man direkt in einen Adlerhorst schauen kann. Noch sind die Jungen Vögel da!

Und dann kamen wir im ZEGG - Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung.

Hier leben ca. 100 Menschen seit über 30 Jahren gemeinschaftlich zusammen, arbeiten an sich und miteinander und forschen daran, wie echter Frieden herzustellen ist und wie man in Übereinstimmung mit den Kreisläufen der Natur und des Lebens leben kann. Wir waren alle sehr berührt und bewegt von dem was wir gesehen und gehört haben und von der Gastfreundlichkeit.

Als ich die Begeisterung der Jugendlichen gesehen habe, dachte ich bei mir: Gebt den jungen Menschen "Nahrung" traut ihnen etwas zu. Die Regeln lernen sie viel einfacher und schneller, wenn Ihre Begeisterung "entfacht" ist.

3. Tag Bad Belzig - Dessau: 67 km


Heute hatten wir die erste grosse Etappe. Es lief super. 

Nach einer abenteuerlichen Fahrt durch Dessau sind wir in einem sehr liebevoll geführten und eingerichteten Jugendzentrum gelandet: Fitnessraum, Beachvolleyball oder -fussball, Hochbeete und eine Wand voller alter Playstations. Empfangen wurden wir von 2 sehr netten und knackfrischen Sozialarbeitern, deren Herz mindestens so gross wie Dessau ist.

Dessau - Halle: 60 km


Gestern ist Leo zu der Gruppe gestossen. Wir kennen uns seit 30 Jahren. Er ist 1994 von Ulm nach Hohenbüssow in Meckpom gezogen. Er ist die Strecke schon gefahren und übernimmt jetzt die "Streckenführung". 

Die Jugendlichen werden müder und ruhiger. Die Gespräche werden tiefer. Es ist so, als ob wir eine Etage tiefer rutschen. Ich kenne das vom Pilgern. 

Gestern haben Jörn vom Jugendtreff, Leo und ich lange über das Verhältnis Ost/West oder von Wessis und Ossis gesprochen. Spannend, dass das immer noch Thema ist. Jörn und Leo meinten beide, dass es immer noch einen deutlich wahrnehmbaren Unterschied zwischen dem deutschen Osten und Westen gäbe. Hier verbindet man mit uns Westdeutschen Menschen, die im Überfluss leben und meinen mit ihrem Geld anderen den Platz wegnehmen zu können. Tatsächlich haben sich viele nach der Wende in Ostdeutschland eingekauft, die Häuser verfallen lassen oder mit ihnen spekuliert. Ich finde spannend, dass uns das Gleiche ja in Überlingen passiert. Reiche Menschen aus ganz Deutschland kaufen sich in unserem traumhaft schönen Ort Wohnungen, die dann oft das ganze Jahr lang leerstehen. Überlinger mit weniger Einkommen suchen dann vergeblich bezahlbare Wohnungen. Da schliesst sich der Kreis zum Grund unserer Reise. Es war mir nicht bewusst, dass es sich hierbei um ein Grundproblem handelt. 

Antworten darauf? Politische Lösungen, auf die wir schon lange warten und Initiativen "von unten" wie das Mietshäusersyndikat und Gemeinschaften wie das ZEEG. Ich bin gespannt was uns sonst noch auf dem Weg begegnet....und wie werden unsere Ideen aufgenommen werden? 

Dessau - Halle: 60 km + 12 km und die erste Krise.


An der Einfahrt zu Halle ist Google Maps völlig durchgedreht. Obwohl wir ca. 800 Meter von unserer Unterkunft entfernt waren hat uns das Navi 10 km durch die Stadt auf eine Autobahnbrücke gelotst, die für Fahrräder gesperrt war. Da standen wir! Die Mitarbeiterin des paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die uns eigentlich um 18.00 Uhr empfangen sollte und extra dafür länger geblieben ist, kam um 20.00 Uhr mit dem Auto dazu, um uns zu lotsen und scheiterte so wie wir an der Autobahn. Wir teilten uns dann. Eine Gruppe fuhr durch einen Wald musste die Fahrräder über Gleise tragen. Ich musste mit der Rikscha wieder aus der Stadt über unebene Waldwege und Kopfsteinpflaster und das ohne Akku. Da kam das erste Heimweh und Sehnsucht nach der Familie. Der Erwachsene in mir konnte das Kind aber beruhigen und beide konnten dies als natürlichen Bestandteil eines solchen Unternehmens annehmen. Wie es oft in solchen Momenten ist, gab es "himmlische" Zeichen, die mir Mut machen sollten:

Und als Belohnung für die großen und kleinen Kinder übernachteten wir in einem Streichelzoo, in dem das Gute und das Böse einträchtig seit Jahren unter einem Dach leben

Das tat gut, nachdem wir auf dem Weg auch anderes gesehen haben. Es ist die einzige gewesen und war nur zum Teil abgerollt. Das Bild soll also bitte keine Vorurteile verfestigen.

Beeindruckend war, wie gut die 4 Jungens durchgehalten haben, wie stark die Solidarität und der Respekt in der ganzen Gruppe wird. Es entwickelt sich ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Kraft, die wir brauchen werden, denn jetzt werden die Strecken länger und bergiger...

Heute ist ein freier Tag, Wäsche wird gewaschen und das Haus geputzt. Das geschieht ganz von alleine und ich denke mir dabei, dass wir uns viele Auseinandersetzungen um Regeln sparen können, wenn wir den Jugendlichen mehr Herausforderungen und Möglichkeiten geben sich zu erfahren und zu spüren.

Halle - Naumburg:73 km


Wir kommen allmählich an unsere Grenzen. Abends auf dem Weg zum Abendessen fällt mir auf, dass wir alle  beginnen komisch zu laufen. Radfahrer verstehen sofort was ich meine. Es gibt Hausmittel wie Babypuder, Wundsalbe und Radlerhosen. Es ändert nichts daran, dass uns abends einfach der Hintern weh tut und zwar jeden Tag ein bisschen mehr.

Heute sind wir an der Saale entlang gefahren. Eine wunder- wunderschöne Landschaft mit Weinbergen und bezaubernden alten Gebäuden. Die Ruhe der Landschaft tut uns allen gut und ich bin überrascht, wie deutlich die 4 Jugendlichen darauf reagieren. Ahmad meinte, dass er heute eine Pause "für die Psyche" machen möchte und ich übersetze das so: an einem ruhigen und schönen Ort, der der Seele gut tut. Es gibt tiefe Gespräche während der Fahrt: über Liebe, Ökologie und den Wert des Geldes. Beim Abendessen meinten Leo und Amir, dass sie es nicht meht lange ohne ihre Familien aushalten werden. Ahmad sagte, dass einem mit seiner Familie nichts passieren könne, weil man " eine Person vor sich, eine hinter sich und jeweils eine neben sich hat". Ich kann besser verstehen, warum der eine oder andere für eine Zeit vom Weg abkommt und bewundere noch mehr, wie sie lernen sich selber in die Hand zu nehmen und zu führen. Wir lachen viel zusammen, über jedem von uns und über uns alle zusammen...

Es ist unglaublich, wie freundlich und hilfsbereit die Menschen hier sind. Uns begegnen so viele  bescheidene und offene Menschen. Wir genießen das sehr und baden in der Gastfreundschaft und dem unterstützenden und motivierendem Mails, die uns jeden Tag erreichen. Nicht nur den Jungens, sondern auch Leo und mir wird jeden Tag bewusster in was für einem schönen Land wir leben und was für tolle Menschen es hier gibt!!!

Die Stadt Naumburg sponsert uns eine Nacht in einem Hotel. Danke!!!!

Naumburg - Orlamünde: 75 km


Wieder wären wir ohne die Unterstützung der freundlichen Menschen hier aufgeschmissen gewesen. Deswegen hier ein paar Fotos von den "Schutzengeln":

Die Zukunft der Rikscha in "Klein"  - Solarantrieb"
Die Zukunft der Rikscha in "Klein" - Solarantrieb"

In Jena hat uns ein Mann sehr liebevoll und ganz präzise den Weg aus der Stadt erklärt. Er betonte immer wieder wie schwer es sei aus diesen "Nest" herauszukommen. Als ich ihn um ein Foto bat, bestand er darauf die Maske mit dem Judenstern anzuziehen. Sein freundlicher Blick wurde sehr verletzt und traurig als er erzählte wie schwer sein Lebens-weg mit dieser Maske sei. Wir folgten dem Weg, den er uns beschrieben hat. Es war nicht schwer aus Jena herauszukommen. Es war einfach und schön! Der Mann irritierte uns alle gleichermassen und wir haben nicht verstanden warum er es sich so schwer macht. 


Dann löste sich unsere so beständige Ordnung in der Gruppe auf. Jamal war zu weit voraus gefahren und plötzlich verschwunden. Nach einer Stunde sind Amir und Ahmed ihn in unserem Ort suchen gegangen. Am Telefon sprach er immer davon, dass er am Sportplatz sei. Die beiden kamen auch nicht zurück. Schließlich bin ich Jamal suchen gegangen. Es waren nur noch zwei von uns am Platz. Als ich wieder zurückkam waren zwei Stunden vergangen und alle wieder da - bis auf Leo. Die Jungens versicherten mir, dass er gerade weggefahren sei. Ich rief ihn in Panik an und war echt mit den Nerven am Ende. Während dessen wartete er hinter einer Hecke. Ich wurde verarscht - aber ziemlich gut, musste ich anerkennend feststellen. 


Wir befinden uns auf einem der schönsten Radwege Deutschlands. Die Ruhe und die Schönheit der Landschaft tut uns allen gut. Es hat viel geregnet und es ist schön, den Duft des satten, feuchten Grases einzuatmen.

Heute haben wir die erste Nacht auf einem Campingplatz an der Saale. Für die Jungens ist es die erste Nacht in einem Zelt überhaupt.

Wir gewöhnen uns langsam ans Radfahren auch dank Leo, der ein sehr erfahrener und fürsorglicher Scout ist. Die Rikscha hat heute einen Namen bekommen. Sie heisst "Emma" wie die Lokomotive aus dem Buch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer". Wie die Lokomotive macht die Rikscha gerade treu und zuverlässig eine Reise, für die sie eigentlich nicht gebaut ist.

Die erste Nacht im Zelt: Ahmed, Jamal, Leo und Amir haben so gut geschlafen wie nie. Sie hatten eher Probleme mit den Hotelbetten, wie sie sagen. Warum? In ihrer Heimat schläft man eher auf dem Boden. Sie sind das gewöhnt. Bei mir ist es genau andersherum.

Heute früh stand das auf einer Tafel auf dem Campingplatz: 

Das stimmt!!
Das stimmt!!

Orlamünde - Stockheim: 63 km Die erste echte Bergetappe!


Wir sitzen jetzt seit genau einer Woche im Sattel. Zeit jeden zu fragen, wie es ihm geht und was er für Erfahrungen gemacht hat:

Ahmed nach einer Woche.
Ahmed nach einer Woche.

"Ich bin mitgefahren, weil ich ein Ziel für mein Leben finden wollte. Ich habe viel Natur erlebt, nette Leute kennen gelernt. Die Natur hat mich beruhigt und die netten Menschen haben mich offener gemacht. Ich hoffe, dass wir gut ankommen und die Menschen in Überlingen uns helfen werden. Wir alle haben was drauf. Wir sind nicht wie jeder andere. Ich fühle mich wohl mit allen. Wir haben alle Respekt voreinander. Das ist besonders für mich."

Letzte Pause vor dem Berg!
Letzte Pause vor dem Berg!

Wir sind unsicher, ob wir die Etappe heute schaffen.  Leo hat mich nach einem Plan B gefragt und ich habe einen Abschleppdienst angerufen und mich nach den Konditionen erkundigt. Das wäre eine Option, die wir hoffentlich nicht brauchen werden.

Wir sind 5 km den Berg hoch...auf dem falschen Weg! Dann zurück und die Riksha eine 12% Steigung hoch geschoben. Dann über Stock und Stein bei unglaublichen Steigungen. Ich bin so in die Pedale getreten, dass die Kette gerissen ist. Leo und ich haben sie zusammen wieder geflickt. Der Akku, ich und Leo haben dann 40 km vor unserem Ziel aufgegeben. David Reinhold, unser Gastgeber für diesen Abend, war schon vorbereitet und kam mit einem Kumpel Klaus einem Anhänger und einem Kleinbus, um uns abzuholen. Die beiden sind auch Radfahrer.  Das war für sie selbstverständlich obwohl wir uns noch nie gesehen und nur ein paar Mal telefoniert haben. Auf dem Weg hat er noch seine Frau Birgit angerufen und ihr gesagt, dass sie die Kartoffeln aufsetzen soll....Gehts uns gut!

David und Klaus sind hier im ehemaligen Grenzgebiet aufgewachsen und waren ungefähr 20 Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie haben uns viele Geschichten von damals erzählt, z.B. die von einem DDR Grenzsoldaten, dem die Flucht gelang und der einer alten Dame in einem fränkischen Dorf einen großen Schrecken eingejagt hat als er hilfesuchend in Uniform und bewaffnet an ihrer Tür klingelte, weil sie dachte, dass der Krieg wieder begonnen hat. Es gab hier in der Nähe sogar ein Dorf, das in der Mitte durch die Mauer getrennt war. Sie haben uns die ehemaligen Grenzanlagen gezeigt. Die Geschichten von den unmenschlichen Grenzanlagen und den vielen Fluchtversuchen haben uns alle sehr beeindruckt und noch einmal vor Augen geführt, wie wahnwitzig und unmenschlich all die Grenzzäune auf der Welt sind. Auf unserer Reise zeigt sich, dass der Mensch Verbindungen sucht und Trennung ihn krank macht.

Ein Stück der ehemaligen Mauer
Ein Stück der ehemaligen Mauer
Vor einem Modell der ehemaligen Grenzanlagen
Vor einem Modell der ehemaligen Grenzanlagen

Dann wartete eine gedeckte Tafel, über dem Feuer gegartes ungarisches Gulasch und Pizza auf uns. In Davds Familie wird Religion sehr gepflegt. Wir haben vor dem Essen gemeinsam gebetet und anschließend viel über den Glauben gesprochen. Ahmed hat das Beten sehr gefallen, er meinte: Das hat mich sehr gefreut wie er gebetet hat. Er hat Respekt für seine Religion. Er hält seine Religion. Bei uns sagt man auch Amen nach dem Gebet. Leo meinte heute früh: "Die haben ihr Herz auf dem rechten Fleck!"

Die Nächte werden deutlich kälter. Ahmeds Statement dazu: Ein Mann schläft immer kalt, wenn er alleine schläft.

Stockheim  - Bamberg: 85 km


Das war die längste Strecke bislang! 


Wir sind 50 km bis zur ersten Pause gefahren. Es gab zwei Pannen. Die Kette ist gerissen, diesmal haben wir es aber sehr schnell wieder hingekriegt. Die 3 Gang Schaltung der Riksha hat sich auf zwei Gänge reduziert. Wenn ich den dritten Gang brauche muss ich die Kette mit dem Fuss rüberschieben, was mir immer besser gelingt. 

In einer Eisdiele kam einer der Jungens mit dem albanischen Besitzer ins Gespräch. Dieser hatte wohl auch eine sehr bewegte Vergangenheit. Jetzt hat er aber Familie und eine Eisdiele. Der Jugendliche erzählte ihm, dass er im Gefängnis war. Er beharrte auf seiner Unschuld. Der Eisdielenbesitzer sagte, dass fast niemand unschuldig im Gefängnis sitze. Er sagte zu ihm etwas sehr treffendes und wichtiges über das Leben: "Du musst etwas aufbauen in Deinem Leben, Arbeit und Familie. Dein Leben muss wie ein Buch sein, in dem Deine Kinder gerne lesen".

Wir kamen fast pünktlich in Bamberg an und wurden wunderbar und unglaublich herzlich von den Mitgliedern des Vereins "Freund statt Fremd e.V." empfangen. Sie arbeiten seit 2011 zusammen und machen Angebote und Projekte für Geflüchtete in Bamberg. Vor 9 Jahren haben sie einfach begonnen. Da sie immer weiter gewachsen sind, sie hatten fast 1000 Mitglieder, mussten sie einen Verein gründen und Strukturen und Hierarchien schaffen. Man spürt, dass die Struktur dem Leben folgt und nicht andersherum. Zwei mal in der Woche wird gekocht. Vor Corona kamen zu diesen Essen 40 - 50 Personen. Es gibt bilinguale Deutschkurse, ein Cafe, Kinderprogramm, Ferienprogramme und Kunstkurse, eine Kleiderkammer, eine Fahrradwerkstatt, Vermittlung von Patenschaften, Frauenfrühstücke, Männerabende, Konzerte usw. Der Verein ist unglaublich und sehr erfolgreich. Leider müssen sie immer wieder um die Finanzierung ihrer Arbeit ringen. Wir wünschen Euch alles, alles Gute für Eure Arbeit!n

Adel aus dem Iran hat uns vorzüglich bekocht und Mei aus Japan hat uns einen wunderbaren Kuchen gebacken.

Morgen gibt es die nächste Bergetappe durch den Steigerwald und mir zittern schon die Knie. Dank unserem "Bergführer" Leo bin ich aber relativ gelassen. Er führt uns mit sanftem Druck, viel Fürsorge und Humor. Heute früh habe ich zu den Jungens gesagt: Egal was im Leben passiert Ihr müsst jeden  Morgen aufstehen und weiterfahren. Leo meinte dazu: Ihr müsst jeden Morgen aufstehen, Euch pudern und dann weiterfahren. 

Bamberg - Bad Windsheim: 84 km.



Leos Spruch wurde heute erweitert: Aufstehen, pudern, Tabak kaufen und weiterfahren - und wir mussten warten ..
Leos Spruch wurde heute erweitert: Aufstehen, pudern, Tabak kaufen und weiterfahren - und wir mussten warten ..
Main-Donau Kanal
Main-Donau Kanal

Das nächste Interview:

Amir nach neun Tagen!
Amir nach neun Tagen!

"Ich bin mitgefahren, weil ich eine Wohnung suche und einfach mal raus wollte. Mein Körper fühlt sich besser an. Es ist geil. Ich habe gemerkt, dass ich doch ziemlich sportlich bin. Ich habe noch nie so viele nette Leute getroffen. Meine Gedanken sind richtig frei geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Reise so geil wird. Wenn mir jemand hilft und mir ein Zimmer oder eine Wohnung anbietet werde ich sehr dankbar sein. Diese Reise hilft mir sehr."

Die Sonne und die 600 km die wir bis jetzt gefahren sind haben ihre Spuren hinterlassen...🤣
Die Sonne und die 600 km die wir bis jetzt gefahren sind haben ihre Spuren hinterlassen...🤣

Auf dem Weg durch ein kleines Dorf haben mich, zwei kleine Mädchen angesprochen. Sie waren vielleicht 8 und 10  Jahre alt und ganz begeistert von der Rikscha. Die eine wollte gerne mitfahren aber nicht mit an den Bodensee kommen. Erst war sie ein klein wenig enttäuscht und dann holte sie eine Handyhülle aus rotem Filz aus ihrer Tasche und zählte ihr Geld. Plötzlich streckte sie mir ihre Hand mit drei Zweieuromünzen entgegen. Ich fragte sie überrascht warum sie mir denn Geld gebe. Darauf erwiderte sie: Na, ihr strampelt euch doch ab. Ich gehe mal davon aus, dass das ihr ganzes Taschengeld war. Alle Menschen reagieren unglaublich freunndlich auf die Riksha. Ich kann es mir nicht wirklich erklären, aber die gute "Emma" zaubert jedem ein Lächeln ins Gesicht.

Leo und Silvia
Leo und Silvia

Kurz vor Bad Windsheim passte uns Silvia die Leiterin des Schullandheimes ab und erklärte uns den Weg. Einen so herzlichen Menschen habe ich noch nie kennengelernt. Sie erklärte uns alles in dem riesigen Gebäude. Heute haben wir Duschen, eine Waschmaschine und Betten, was vor allem mich sehr freut!

Bad Windsheim - Crailsheim: 75 km

Aufbruch! Silvia Lutz hat uns mehr als gut umsorgt. Sie kam sogar mit Tomaten aus dem eigenen Garten zum Frühstück. Auf Grund von Corona wurden so gut wie alle Buchungen storniert und der Verein kämpft so wie viele andere ums Überleben. Sie freuen sich sehr über Buchungen. Mehr Infos findet ihr unter: 

www.schullandheimwerk-mittelfranken.de

Es ist so geräumig hier, dass die Hygienevorschriften gut eingehalten werden können.


Leo und Silvias Tomaten.🤩
Leo und Silvias Tomaten.🤩

Heute war für mich der schwierigste Tag bislang. Es gab viele Steigungen und den ganzen Tag Gegenwind. War die Stimmung gestern noch ausgelassen, waren heute alle ruhig und in sich gekehrt. Auf den langen Bergstücken ist jeder allein mit sich und ganz wach nach innen. Es geht ja darum bislang verborgene Kräfte zu mobilisieren. Dennoch ist es schön die anderen im gleichen Kampf um sich zu wissen. Als Leiter der Gruppe frage ich mich, ob es in Ordnung Menschen so an ihre Grenzen zu bringen. Gleichzeitig weiss ich aus eigener Erfahrung, dass wirkliche Veränderung oft an diesen Grenzen geschieht. Gestern haben die Jugendlichen zum Teil noch aufeinander herumgehackt. Das war heute ganz anders. Während der zweiten Pause geschah etwas sehr Schönes: Als Leo erzählte, dass er früher bei der Polizei war ging ein Ruck durch die Gruppe. Leo erzählte weiter wie es ihm gelang seine Kräfte und Fähigkeiten sinnvoll und dienend in die Gesellschaft einzubringen. Zum Schluss spielte er Ahmed noch ein Stück aus einem Kindertheaterstück vor, in dem es genau um dieses Thema geht. Ahmed erzählte, dass er das Vertrauen in andere Menschen teilweise verloren hat und wie schwer es ihm fällt dieses wieder zurückzugewinnen. Wir waren alle der Meinung das Ahmed ein guter Gruppenleiter werden könnte. Er ist wach, hat alle im Blick, ist immer positiv und hilfsbereit.

Heute kamen wir durch Rothenburg. Leo hatte die Stadt als eine der schönsten mittelalterlichen Städte in Deutschland angekündigt. Am Stadtrand kam es zu einem kleinen Unfall mit ein paar Schrammen und zwei Achter in den Felgen. Bei Kaffee und Limonade wurde alles geflickt und verarztet. So verbrachten wir länger als geplant in Rothenburg. Mir fiel dabei auf, wie der Tourismus einer Stadt das eigene Leben und die eigene Atmosphäre nehmen kann. Das "Eigene" braucht Ruhe um sich entfalten zu können. Dennoch hatte Leo recht. Die Stadt ist wirklich schön.

Am Abend kamen wir dann in Crailsheim in einem ganz modernen und sehr ansprechenden Jugendhaus an. Hier erwarteten und Katja, die seit dreizehn Jahren hier in der offenen Jugendarbeit tätig ist, und Hilde Gebhard, Vorstand des Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e.V. und unsere weibliche Verstärkung für die letzten Etappen. Leo und ich freuen uns sehr. Kathja erzählt, dass die Jugendarbeit hier sehr gut aufgestellt. Crailsheim hat 34000 Einwohner. Es gibt 6 Jugendhäuser und 15 Mitarbeiter*innen in der offenen, der Schulsozialarbeit und der mobilen Jugendarbeit. Wie in Überlingen gibt es die mobile Jugendarbeit auch hier erst seit etwas mehr als einem Jahr.

Leo und ich sind sehr zuversichtlich, dass wir die Jungens mit der tollen Unterstüng erstmals pünktlich auf die Räder bringen. Katja sagte nur kurz und knapp: Ansagen machen. Das kann ich! 

Katja hat uns wunderbar verpflegt. Danke an die Stadt! Es gab Crailsheimer "Horaffen". Diese wurden während der Belagerung der Stadt im Jahre 1380 zurück. Damals haben alle Frauen gebacken und das Essen über die Mauer geschmissen, um den Belagerern zu zeigen, dass innerhalb der Stadtmauern kein Mangel herrscht und die Belagerung deshalb zwecklos ist. Dabei zeigte die damalige Bürgermeisterin ihren nackten Hintern auf der Stadtmauer. Dieser wurde nachgebacken und zum Wahrzeichen der Stadt.

Ein Horaffe!
Ein Horaffe!

Und wieder ging es um das Thema "den eigenen Weg finden" beim Frühstück. Katja kommt aus einer sorbischen Mindeheit in Sachsen. Sie ist über Kiel nach Crailsheim gekommen und hier mittlerweile sehr heimatverbunden. Schön wie sie die Crailsheimer Geschichten erzählt. Sorbisch ist eine eigene slawische Sprache, die es nur in Deutschland und Mexico gibt. Katjas Bruder unterrichtet sogar auf sorbisch in der Lausitz.

Crailsheim - Heidenheim: 74 km


Die Etappe ging wider Erwarten sehr leicht. Wir sind erstmals vor 18.00 Uhr angekommen! Das hat sicher mit der Anwesenheit von Hilde zu tun. Männer sind einfach aufgeräumter wenn Frauen in ihrer Nähe sind. Hinzu kam, dass Leo uns zielsicher in ein Tal in der schwäbischen Alb gelotst hat, so dass wir fast keine Steigungen hatten. In Aalen bekamen wir Unterstützung von Martin, der uns auf einem Schulhof angesprochen hat. Martin betreibt zusammen mit anderen eine Fahrradwerkstatt für Menschen mit geringem Einkommen, von deren Austattung und deren Ordnung ich noch träume.

Das Lager!
Das Lager!
Auf dieser Tafel steht in 20 Sprachen: "Feste Preise, gute Preise"😉Ein Fahrrad kostet zwischen 20 und 50 Euro.
Auf dieser Tafel steht in 20 Sprachen: "Feste Preise, gute Preise"😉Ein Fahrrad kostet zwischen 20 und 50 Euro.

Die Werkstatt, kostenlose Fahrradkurse und integrative Fahrradtouren werden über dem ADFC in Heidenheim organisiert. Martin lotste uns anschließend durch Aalen und erklärte uns die Industriegeschichte der Stadt.

Auf dem Weg kamen durch Königsbronn wo sich eine Georg Elsner Gedenkstätte und der Prenztopf befindet. Dort machten wir Pause zum "Kneippen" an der Prenzquelle. Das war magisch klar und schön. Man konnte vier Meter in die Tiefe schauen. Es kommt das ganze Jahr mit konstanten 4 Grad aus dem Felsen. Ein paar von uns gingen dort schwimmen, die anderen "kneippen". Die Grimassen und Laute die wir in dem kalten Wasser machten könnte man in einem eigenen Blog veröffentlichen😉.


Abends wurden wir dann am Haus am Waldbad der AWO empfangen. Wir bekommen die Übernachtung geschenkt wie so vieles auf dieser Reise... Wir wissen oft gar nicht wie uns geschieht. Die Menschen mögen das Anliegen unserer Reise und wollen uns einfach unterstützen. Die beiden hübschen blonden Damen, Christina und Jenny,  auf dem Bild arbeiten selbst hauptamtlich in der Migrationsberatung, machen sehr erfolgreiche integrative Sportprojekte und sind sind "Respektcoaches" an Schulen. Eine der beiden meinte kurz vor dem Foto: Na, dann macht Euch noch mal kurz schön. Das habe ich irgendwie falsch verstanden, wie jeder auf dem Foto sehen kann...

Gestern beim Abendessen ging es wieder um das Leben und es sah kurz so aus, als würde sich der Deckel heben und der eine oder andere offen über sein Leben in der Heimat und die Gefühle, Hoffungen und Ängste bei der Flucht sprechen. In all den Jahren, die ich mit Geflüchteten arbeite wurde diese Teile der Geschichten immer sorgfältig gehütet und nie wirklich preisgegeben. Ich kann das gut verstehen. Ist es doch ein wichtiger und vielleicht lebensnotwendiger Schutz. Wir sind uns in den Tagen sehr nah gekommen. Das merkt man. Fast alle haben Schmerzen, meistens sind es die Knie, doch keiner denkt ans Aufhören. Mal sehen, was die nächsten 3 Tage noch bringen.....

Heidenheim -Ulm: 54 km


Die Nachrichten von dem brennenden Flüchtlingslager auf Lesbos gehen nicht spurlos an unserer Gruppe vorbei. Ich persönlich bekomme die Offenheit und unglaubliche Freundschaft, die wir auf dieser Reise erfahren dürfen mit der Angst und Unmenschlichkeit, die solche Lager erst möglich machen nicht unter einen Hut. Hilfsorgansationen, die in dem Lager tätig sind haben, angesichts der Zustände dort, vor diesen Bränden gewarnt. Wir alle hoffen, dass es eine Welle der Menschlichkeit gibt und die Menschen aus Moria schnell in der EU verteilt werden. Meine Generation, deren Eltern in den letzten Kriegsjahren und der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, hat die lebenslangen Folgen einer Kindheit unter solchen Entbehrungen z. T. am eigenen Leib erlebt. Es fällt mi schwer zu verstehen, dass wir so etwas beobachten und so zögerlich darauf reagieren.

Wir werden uns immer ähnlicher🤣🤣🤣
Wir werden uns immer ähnlicher🤣🤣🤣



Das nächste Interview:

Leo nach 12 Tagen.
Leo nach 12 Tagen.

" Ich wollte mitfahren, weil ich die schlechte Atmosphäre in meinem Leben löschen wollte. Ich habe neue Erfahrungen gesucht, wollte neue Menschen, Deutschland und die Natur besser kennen lernen. Ich hatte auch Lust auf viel Sport. Jetzt nach 12 Tagen habe ich beschlossen, dass ich in meinem Leben viel reisen und die unterschiedlichsten Menschen kennen lernen möchte. Ich möchte meinen Horizont erweitern. DerNaturschutz war immer schon wichtig für mich und ist durch die Reise noch wichtiger geworden. Die Gesundheit der Menschen hängt an der Natur. Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir uns. Auf unserer Reise ist mir klar geworden wie schön die Natur in Deutschland ist. Ich hoffe, dass es immer mehr Menschen gibt, die die Natur lieben und sie bewahren. Ich will weiter durch die Natur reisen und nicht wieder zurück."

Heute kamen wir durch das unwirklich schöne Eselsburgtal. Es wirkte auf uns wie eine Parallelwelt zu dem, was uns normalerweise umgibt. Hier gibt es Biohofgemeinschaft mit christlichem Hintergrund und einem bildschönen Bioladen, der ein bisschen an die Naturata in Überlingen erinnert. Wir klingelten bei Lotta, einer anthroprosophischen Allgemeinärztin. Sie erzählte uns von einem agfhanischen Mann, ähnlich alt wie die 4 Jungens, der hier eine Ausbildung zum Landwirt macht. Er sei ein toller Arbeiter und wird hier sehr geschätzt. Leider droht ihm, wie einem von uns, die Abschiebung. Beide sind maximal integriert und, wie gesagt, wäre es ein großer Gewinn für Deutschland wenn sie bleiben dürften.

Lotta und ihre Kinder aus dem Eselsburgtal
Lotta und ihre Kinder aus dem Eselsburgtal
Jamal, Laurin und Ahmed.
Jamal, Laurin und Ahmed.

Heute fanden wir im Gras folgende Notiz!

Kurz erfasste uns der grosse Atem der Geschichte. Sind wir Teil einer großen  Bewegung geworden oder haben wir diese gar ausgelöst? Leos Satz: " Egal was im Leben passiert, steh morgens auf, puder dich und fahr weiter" bekommt nun eine ganz andere Dimension.😉

Ankunft im spannenden Projekt W9 - ein Übergangswohnheim für wohnungslose Jugendliche
Ankunft im spannenden Projekt W9 - ein Übergangswohnheim für wohnungslose Jugendliche

Die mobile Jugendarbeit in Ulm hat lange für dieses Projekt gekämpft. Mittlerweile gibt es W9 (Weyermannweg 9) seit 2,5 Jahren. Es ist durch den Projektstatus durch, wie Sascha sagt, der seit 9 Jahren bei der mobilen Jugendarbeit in Ulm arbeitet. Es gibt drei Phasen der Aufnahme. Es beginnt mit 4 Nächten Notschlafplatz. Dann gibt es eine vierwöchige "Clearingphase", in der die Jugendlichen zeigen sollen, dass sie den Wunsch nach Veränderung haben und an sich arbeiten wollen. Erst dann werden sie aufgenommen. Belegt wird das Haus ausschließlich durch die Streetworker. Diese bleiben Ansprechpartner. Im Haus haben sie aber eine eigene "Fallkoordination", weil sich die Rolle der mobilen Jugendarbeit nicht mit der Durchsetzung von notwendigen Hausregeln verträgt. Finanziert wird die Unterkunft und die Verpflegung über die Leistungen des Jobcenters und die Betreuung über den Paragrafen 67 SGB 12 und Paragraf 41 SGB 8 für die Jugendlichen, die aus der Jugendhilfe kommen. "Für uns ist das zu Hause" sagt Daniel, der seit 3 Monaten hier lebt. 

Dani ( seit 3 Jahren Streetworkerin mit Herzblut) sagt; Man muss den Jugendlichen zuhören, spüren was sie bewegt und wahrnehmen wer sie sind.
Dani ( seit 3 Jahren Streetworkerin mit Herzblut) sagt; Man muss den Jugendlichen zuhören, spüren was sie bewegt und wahrnehmen wer sie sind.
Sascha hat den schwarzen Gürtel im Grillen..
Sascha hat den schwarzen Gürtel im Grillen..

Simone leitet die Gruppe. Sie ist unglaublich engagiert und fürsorglich. Um 19.00 Uhr hat sie noch Luftmatratzen für uns gekauft und kurz vor Ladenschluss ist sie noch mit Jamal in den Mediamarkt gefahren um ein neues Handy zu kaufen. Sein altes war ein paar Tagen bei einem Sturz kaputt gegangen. Die dramatischen Folgen wenn ein Handy kaputt geht erleben Eltern täglich auf der ganzen Welt. Morgens um 7.00 Uhr stand schon ein geniales Frühstück und ein Lunchpaket für jedem bereit. Sie halten die Gruppe zu viert mit insgesamt 200% am Laufen. Das geht nur mit ganz viel Engagement.

Die Lunchpakete
Die Lunchpakete


Morgens komme ich in den Aufenthaltsraum. Ahmed und Amir sind nicht da! In mir spielen sich sämtliche Folgen von Mission Impossible ab. Als ich die Treppe hochkomme stehen sie beide völlig übernächtigt da. Sie waren abends noch in der Stadt und haben nicht wieder zurückgefunden. Trotzdem waren sie pünktlich wieder da, werden pünktlich auf ihren Rädern sitzen und sind fest entschieden die lange Etappe heute mit uns zu fahren und ich bin....trotzdem allem oder gerade deswegen...echt stolz auf die beiden. Amir: Ich muss das schaffen, auch wenn ich sterbe!😉

Das nächste Interview:

Jamal nach 13 Tagen!
Jamal nach 13 Tagen!

" Ich bin mitgefahren, weil ich auf eine Reise gehen wollte. Ich wollte neue Menschen, eine andere Kultur kennen lernen und neue Geschichten hören. Die Reise ist total cool. Ich werde mich immer daran erinnern. Ich habe mich wohl in der Gruppe gefühlt. Vorher habe ich gedacht, dass ich das nie schaffen werde von Berlin mit dem Fahrrad an den Bodensee zu fahren. Ich konnte eigentlich nur ein bisschen Fahrradfahren. Ich habe das erst hier gelernt. Jetzt habe ich es geschafft! Ich fühle mich gut. Die Stadt Halle und die Übernachtung in Bamberg bei dem Verein "Freund statt fremd" haben mir am besten gefallen. Deutschland ist gut für mich. Ich war in der Schule und habe ein Jahr im Kindergarten gearbeitet. Jetzt warte ich auf meinen Asylbescheid." 


Ulm - Aulendorf: 75 km

Das erste Schild mit "heimatlichen" Namen
Das erste Schild mit "heimatlichen" Namen
Pause in Biberach
Pause in Biberach

Langsam geht unsere Reise zu Ende und es schliesst sich ein Kreis. In Biberach stossen wir zufällig auf eine Statue von Peter Lenk und eine alte Geschichte von einem Esel, die gut zu dem Grund unserer Reise passt. Es geht um Mann, der einen Esel gemietet hat. Weil die Sonne, so wie heute, heiss auf ihn niederbrennt, legt er sich für eine Weile in den Schatten des Esel. Der Mann, der ihm den Esel vermietet hat verlangt darauf hin eine extra Miete für den Schatten des Esels. Darauf entsteht ein absurder Rechtsstreit, über den die Menschen sich seit langem amüsieren, der aber auch von einer Form der Geldgier erzählt, der an vielen Orten zu Wohnungsnot führt.

Der Esel von Peter Lenk
Der Esel von Peter Lenk

Auf unserem weiteren Weg kamen an der grössten Dorfkirche Deutschlands in Steinhausen vorbei....

Leo ist ganz ergriffen von dem barocken Deckengemälde...
Leo ist ganz ergriffen von dem barocken Deckengemälde...

...und kamen schließlich bei der Familie Piele - Kröner in Aulendorf an. Unsere letzten Gastgeber auf unserem Weg. 

Mark und sein Sohn Samson
Mark und sein Sohn Samson

Mark arbeitet mit Familien, er ist Erzieher, hat eine Mediatotenausbildung und befindet sich gerade im Aufbaukurs der SIT Ausbildung. Er arbeitet bei Rückenwind für Familien e.V., der schon lange mit dem Linzgau Kinder- und Jugendhillfe e.V. kooperiert. Tine ist ebenfalls Erzieherin und Lehrkraft an einer Schule für Heilerziehungspfleger. Die Gespräche drehten sich um innere und äussere Kraft. Mark übte mit Ahmed Aikido und um gemeinschaftliches Wohnen und Leben. Beispiele davon durften wir schon auf unseren beiden ersten Etappen in Michendorf und Bad Belzig erleben. Mark und Tine träumen von einem Wohn- und Lebensprojekt mit mehreren Familien und arbeiten emsig an dessen Umsetzung. 


Nach fast tausend Kilometern quer durch Deutschland wird mir immer deutlicher wie sehr dieses Land "in Bewegung" ist. Es tut sich was! Überall arbeiten und planen die Menschen an der Verbesserung unserer Gesellschaft und unserer "Systeme". Mit "Verbesserung" ist nicht "Optimierung" gemeint, sondern eher die Arbeit an einem (noch) menschlicherem und sozialerem Zusammenleben. Davon liest und hört man wenig in den Medien. Um das zu erleben muss man sich auf den Weg machen und das möglichst nicht mit dem Auto. Ich habe mehr Lust an dieser Form des Unterwegsseins und mehr Neugierde und tiefes Interesse an unserem wunderschönen, bunten und spannenden Land bekommen.

Samson hat gestern noch unsere Riksha gemalt!
Samson hat gestern noch unsere Riksha gemalt!
Leo und Samson tauschen sich über ihr Leben als Männer mit langen Haaren aus.
Leo und Samson tauschen sich über ihr Leben als Männer mit langen Haaren aus.


Ein weiteres Interview:

Leo nach 12 Tagen.
Leo nach 12 Tagen.

"Ahmed hat gestern eine Ausbildung zum Friseur angeboten bekommen und mir düüüüüüüüüü mich sehr berührt. Die Jungens haben uns die ganze Zeit sehr untersützt. Sie geben uns alles zurück, was wir ihnen an Sympathie, Unterstützung und Vertrauen entgegenbringen. Schön sind die kurzen Momente der unverstellten Begegnung, in denen Rollen nebensächlich werden. Die Idee dieser Tour hat mich von Anfang an begeistert. Im Laufe der Tour ist mir die wahre Grösse der Grundidee, sich auf den Weg zu machen immer klarer geworden. Das Unterwegssein, die Begeisterung der jungen Männee für bislang fremde Menschen, die Natur und das Land, in dem sie leben bringt mich dazu selber Touren in dieser Form zu planen. Ich fand die Tour sehr leicht. Etwas schwierig war es nur am Anfang die Jungens zu motivieren früher aufzustehen. Es war immer lustig und in jeder Form bereichernd. Ich habe viel Neues über die Herkunft und die Heimat der jungen Menschen erfahren. Das, was ich gehört habe, kann man nirgendwo nachlesen. Mir ist klar geworden wie verschieden von uns sie aufgewachsen sind und wie schwer es für sein muss, sich unserer Kultur und unseren Regeln anzupassen. Sie brauchen Zeit und wir verlangen oft viel zu viel von ihnen. Nach den 2 gemeinsamen Wochen kann ich sie viel besser verstehen. In ihrem problematischen Verhalten, das wir oft abwerten oder sogar ablehnen spiegeln sie die gelebten zum Teil egoistischen, materiellen Werte unserer Gesellschaft."

Ahmed und Amir in Ravensburg
Ahmed und Amir in Ravensburg

Ahmed zu einer Passantin: Wir fahren von Berlin nach Bodensee.

Carlos: Zum Bodensee, nicht nach Bodensee.

Amir: Deutsche Sprache Katastrophe.

Ahmed: Aber geile Katastrophe!

Und:


Hilde: Jetzt geht es noch 2 km geradeaus und dann den Berg hoch.

Ahmed: Den Berg esse ich wie Salat!

Geschafft!!
Geschafft!!

Und wie geht es weiter?

Jamal hat sich für einen Deutschkurs bei der VHS angemeldet und schickt viele  Bewerbungen los. Auf Grund der Tour hat sich eine Firma aus Überlingen gemeldet und ihn zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Jamal hat sich für einen Deutschkurs bei der VHS angemeldet und schickt viele Bewerbungen los. Auf Grund der Tour hat sich eine Firma aus Überlingen gemeldet und ihn zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Lyiaqat darf nicht mehr in die Schule nachdem sein Asylantrag endgültig abgelehnt wurde. Er arbeitet an einem Antrag bei der Härtefallkomission, die Empfehlungen ans Innenministerium gibt, Menschen, die gut integriert sind eine Bleiberecht zu geben. Nun sammelt er Empfehlungen von Menschen, die ihn kennen, Arbeitgebern, bei denen er beschäftigt war, Lehrern, die ihn unterrichtet haben und Vereinen, in denen er Mitglied war oder ist. Er kämpft und gibt nicht auf.
Lyiaqat darf nicht mehr in die Schule nachdem sein Asylantrag endgültig abgelehnt wurde. Er arbeitet an einem Antrag bei der Härtefallkomission, die Empfehlungen ans Innenministerium gibt, Menschen, die gut integriert sind eine Bleiberecht zu geben. Nun sammelt er Empfehlungen von Menschen, die ihn kennen, Arbeitgebern, bei denen er beschäftigt war, Lehrern, die ihn unterrichtet haben und Vereinen, in denen er Mitglied war oder ist. Er kämpft und gibt nicht auf.
Ahmad hat eine Ausbildung zum Frisör bei der Firma Purgold begonnen.
Ahmad hat eine Ausbildung zum Frisör bei der Firma Purgold begonnen.

Jetzt, mehr als zwei Wochen nach unserer Tour kann und muss ich sagen, dass kein einziges Angebot für eine Wohnung oder ein Zimmer bei uns eingegangen ist. Ich versuche das noch zu verstehen und habe ein paar konkrete Ideen und Konzepte auf der Reise gesammelt, anhand derer man betreuten Wohnraum für junge Menschen, die nicht oder nicht mehr in der Jugendhilfe sind, schaffen könnte. Insofern hält sich die Enttäuschung über die öffentliche Wirkungslosigkeit des Projektes in Grenzen. Nachhaltiger als Wohnungsangebote wäre ja Wohnraum, der längerfristig mehreren "Generationen" von jungen Menschen zur Verfügung stehen würde. Wir bleiben an dem Thema dran!


Für die jungen Menschen hat sich ja durchaus etwas verändert. Ahmed hat eine Ausbildung bekommen, Amir kann vielleicht die Ausbildung zum Altenpflegehelfer in Ravensburg machen. Für Leo gibt es Hoffnung. Er hat die Zusage, dass er sein Fachabitur machen kann, wenn er sich bemüht seine afghanischen Papiere zu beschaffen. 


Die Riksha ist mittlerweile in Überlingen unterwegs und sorgt für staunende Blicke. Jugendliche werden einfach so mitgenommen, wenn ihr Ziel auf dem Weg liegt. Manche werden in der Riksha zu Terminen gefahren und ein Inder, der schon viele Jahre in Überlingen wohnt, wundert und freut sich gleichzeitig, weil in seinem Land vornehmlich reiche Touristen in der Riksha sitzen. In Überlingen ist das anders!